Vor 100 Jahren feierten Deutsche, Briten und Franzosen gemeinsam Weihnachten. Mitten im Krieg, an der Front. Es war ein kleines Wunder zum Fest.

Weihnachtsfrieden 1914 Ostfront / Christmas Truce 1914
© AKG ImagesWeihnachtsgrüße aus der Heimat: Deutsche Soldaten packen die „Liebesgaben“ von Kaiser und Vaterland aus. Das Bild stammt von der Ostfront, wo es im Dezember 1914 vergleichsweise ruhig zuging.
Vielleicht war es der neue Papst, der gerade erst in sein vom Krieg überschattetes Amt eingeführt worden war. Benedikt XV., der als „Friedenspapst“ in die Geschichtsbücher eingehen sollte, war Anfang September 1914 „kriegsbedingt“ in aller Eile in der Sixtinischen Kapelle zum Pontifex Maximus gekrönt worden. Wenige Tage später schon wandte er sich in seinem Apostolischen Schreiben „Ubi primum“ an die verfeindeten Nationen und beschwor sie, das blutige Gemetzel zu beenden. Doch seine Worte verhallten, die Schlachten gingen weiter.

Der Krieg, der später zum Ersten Weltkrieg wurde und als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet wird, forderte unvorstellbar viele Menschenleben. Bis zum Dezember 1914 kamen in nicht einmal fünf Monaten schon eine Million Soldaten zu Tode, fast neun Millionen weitere sollten bis 1918 noch folgen. Am Ende des Krieges waren fast 40 Prozent aller deutschen Männer der Jahrgänge 1892 bis 1895 tot. Einer der Gründe für das große Sterben war die Industrialisierung des Tötens mit Maschinengewehren, Splitterhandgranaten, Flammenwerfern und nicht zuletzt auch Giftgas.

Der Krieg, ein Teufelswerk

Von der Begeisterung, mit der sich ganze Schulklassen in Deutschland im Sommer 1914 zum Dienst an der Waffe gemeldet hatten, war schon im Winter nichts mehr übrig. Nur bis nach Belgien und an die französische Grenze waren die deutschen Truppen im Westen vorgestoßen. Dort blieben die Soldaten nach wochenlangen Regenfällen im Schlamm stecken. Stellungskrieg nennt man Schlachten, bei denen keine Seite mehr Boden gutmachen kann. Alle Versuche, die Deutschen zurückzuschlagen, scheiterten genauso wie deren Attacken in Richtung Westen gegen Franzosen, Belgier und Briten.

Fast nichts ging mehr an der Westfront im Dezember vor 100 Jahren. Nur das Töten gehörte weiter zum Alltag der Soldaten, immer wieder mussten sie ihre Gräben verlassen, um gegeneinander anzurennen. Auf beiden Seiten hatte man sich eingegraben, um wenigstens für Stunden ein wenig geschützt zu sein. Dazwischen befand sich ein Niemandsland, in dem ungezählte tote oder verletzte Kameraden lagen. Die Verwundeten zu bergen, die Gefallenen zu beerdigen war nicht möglich. Jeder, der nur den Kopf aus dem Graben steckte, musste damit rechnen, von einer Kugel getroffen zu werden.

Weihnachtsfrieden 1914 / Christmas Truce 1914
© Picture-AllianceDer Weihnachtsfrieden von 1914 ist in der Geschichte einmalig.
Die Siegesgewissheit der deutschen Truppen war verflogen. Die auch kaiserliche Parole, bis Weihnachten sei der Krieg zu Ende, seien die Männer wieder bei ihren Familien, hatte sich als Hirngespinst herausgestellt. So froren und hungerten die Soldaten dem Hochfest der Christenheit entgegen - ohne jede Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende. Der Anblick der Leichen, an denen die Ratten nagten, war so wenig zu ertragen wie die ständige Todesangst. Der Maler Otto Dix, der freiwillig und begeistert an die Front geeilt war, fasste seine Kriegserfahrungen 1915 in seinem Tagebuch so zusammen: „Läuse, Ratten, Drahtverhau, Flöhe, Granaten, Bomben, Höhlen, Leichen, Blut, Schnaps, Mäuse, Katzen, Gase, Kanonen, Dreck, Kugeln, Mörser, Feuer, Stahl, das ist der Krieg, alles Teufelswerk.“

Sehnsucht nach ein wenig Frieden

Die Sehnsucht nach wenigstens ein bisschen Frieden war besonders in Flandern zu spüren. So erreichte der zweite Aufruf des Papstes wohl zumindest ein Ziel - die tief verstörten Männer an der Front, die sich im ersten Kriegsjahr noch einen Rest an Menschlichkeit bewahrt hatten. Benedikt XV. sprach ihnen aus der Seele, als er am 7. Dezember 1914 die kriegführenden Mächte inständig bat, die Waffen wenigstens in der Nacht schweigen zu lassen, in der die Engel zu Ehren des Jesuskindes gesungen hatten. Die Hoffnung des Papstes, ein Weihnachtsfrieden würde zu einem richtigen Frieden führen, erfüllte sich nicht. Auch die päpstliche Forderung wenigstens nach einer Feuerpause ignorierten die politischen und militärischen Führer. Ihnen fehlte die Fronterfahrung, führten sie ihren Krieg doch aus sicherer Distanz.

Das Wunder aber begab sich doch: An vielen Stellen entlang der Westfront kehrte am Christfest Frieden ein. Auf beiden Seiten habe eine Stimmung geherrscht, „dass endlich Schluss sein möge“, fasste Captain Reginald Thomas von der britischen Royal Artillery die allgemeine Gemütslage zusammen. Tatsächlich ging die Initiative oft von deutscher Seite aus. Dabei kam den Soldaten ein Präsent ihres Kaisers zu Hilfe: Er hatte dafür gesorgt, dass den Männern in den Gräben kleine geschmückte Tannenbäume samt Kerzen zur Verfügung standen.

Weihnachtsfrieden 1914 / Christmas Truce 1914
© InterfotoFür einen Tag Brüder: Das Foto, aufgenommen von Grenadier Turner, zeigt Deutsche und Briten Weihnachten 1914 bei Ploegsteert.
Mit dieser Gabe von höchster Stelle und im Namen des Vaterlands setzten die kriegsmüden Untertanen Wilhelms II. ein Friedenszeichen. „Plötzlich flammten auf den deutschen Grabenwällen Lichter auf“, beschreibt der Grenadier Graham Williams vom fünften Londoner Schützenregiment seine Erlebnisse an Heiligabend 1914. „Es waren Kerzen auf geschmückten Christbäumen, ihr Schein strahlte in die frostklare Luft. Die anderen Wachposten sahen dies natürlich auch und gaben Alarm. Als unsere Kameraden schlaftrunken aus ihren Unterständen herauskamen, stimmten unsere Gegner ,Stille Nacht, Heilige Nacht’ an. Wir sangen ,The First Noël’. Zum Schluss sangen Deutsche und Engländer gemeinsam ,O du fröhliche’ in ihren Sprachen.“ An anderen Frontabschnitten kam es sogar zur Fraternisierung mit dem Feind, was auf beiden Seiten aufs Strengste verboten war. In der Nähe von Neuve Chapelle bei Fleurbaix etwa begannen einige Deutsche ganz ungeniert, Kontakt zu den Engländern aufzunehmen. Sie riefen, wie die Briten umgehend nach Hause berichteten, „in really good English“, was wohl nicht ganz ernst gemeint war: „You don’t shoot, we don’t shoot!“ Bald schon kletterten die ersten aus ihren Gräben hinein ins Niemandsland. Es waren meist einfache Soldaten. Nur selten fiel ein Schuss, stattdessen wurde geredet, gescherzt, gelacht. Und es wurde ausgemacht, dass auch am nächsten Tag nicht gekämpft werden sollte, weil man die toten Kameraden beerdigen wollte.

Weihnachtsfrieden 1914 / Christmas Truce 1914
© DSMVerbrüderung im Niemandsland am 1. Weihnachtsfeiertag
Der Spuk ging am ersten Weihnachtstag weiter. Der Gefreite Josef Wenzl vom Königlich Bayerischen 16. Reserve-Infanterie-Regiment schrieb am 28. Dezember 1914 an seine Eltern in Schwandorf: „Kaum fing es an Tag zu werden, erschienen schon die Engländer und winkten uns zu, was unsere Leute erwiderten. Allmählich gingen sie ganz heraus aus den Gräben, unsere Leute zündeten einen mitgebrachten Christbaum an, stellten ihn auf den Wall und läuteten mit Glocken . . . war dies etwas Ergreifendes: Zwischen den Schützengräben stehen die verhassten und erbittertsten Gegner um den Christbaum und singen Weihnachtslieder. Diesen Anblick werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Man sieht bald, dass der Mensch weiterlebt, auch wenn er nichts mehr kennt in dieser Zeit als Töten und Morden . . . Weihnachten 1914 wird mir unvergesslich bleiben.“ Josef Wenzl fiel am 6. Mai 1917 in der Schlacht an der Aisne unweit von Reims.

Nicht alle teilten die Begeisterung. Ein anderer Gefreiter desselben Regiments „List“, benannt nach seinem ehemaligen Kommandeur Oberst Julius List, war auf seine Kameraden sogar wütend: Adolf Hitler missbilligte die Fraternisierung mit dem Feind. Schließlich sei man im Krieg. Seine Kameraden aber machten dem Gegner sogar Geschenke. Die Soldaten hatten „Liebesgaben“ aus der Heimat bekommen, Selbstgestricktes, Weinbrand, Kekse, aber auch Läusepulver und natürlich Tabak. Während der deutsche Kronprinz seinen „Kameraden“ eine Pfeife aus Porzellan mit seinem Porträt darauf zukommen ließ, wurde im Namen der einzigen Tochter des britischen Königs eine „Princess Mary Box“ gepackt - ebenfalls mit Pfeife, Tabak und Zigaretten sowie einem Foto der 17 Jahre alten Prinzessin und einer Glückwunschkarte von Georg V. Was die hochwohlgeborenen Spender nicht ahnen konnten: dass gerade ihre Festgaben schon bald die Fronten wechseln sollten. Die Kronprinz-Wilhelm-Pfeifen etwa wurden besonders gerne gegen Büchsen mit Corned beef und Plumpudding eingetauscht.

Weihnachten 1. Weltkrieg
© PrivatDeutsche unter sich: Die meisten Offiziere feierten weit hinter der Front unter einem größeren Baum.
Viele Berichte, gesammelt unter anderem im „In Flanders Fields Museum“ in Ypern und im Kriegsmuseum in London, kursieren über jene Weihnachtstage anno 1914: Da war etwa Jack Regan, als Zivilist Friseur von Beruf. Der Soldat soll einen Hocker vor den englischen Schützengraben bei Wez Macquart nahe Ploegsteert gestellt haben, um Freund wie Feind die Haare zu scheiden. Auf Wunsch rasierte er die Männer auch, während sich die Umstehenden einen Spaß daraus machten, die Läuse, die mitsamt Haarbüscheln zu Boden fielen, zu zerquetschen. Ein gewisser Grenadier Turner hat zwar keinen Vornamen mehr, trotzdem ist sein Name eng mit dem „Christmas Truce“ verknüpft: Der Mann vom Londoner Schützenregiment machte Bilder von dem Ereignis. Auf einem der Fotos sind seine beiden Kameraden, die Schützen Andrew und Grigg, mit deutschen Soldaten zu sehen, einer ist unschwer an seiner Pickelhaube zu erkennen. Von dem Fußballspiel, das anschließend stattgefunden hat, machte Turner keine Fotos. Doch es war nicht das einzige Spiel an der Front zwischen den „Fritzen“ (wie die Briten die Deutschen nannten) und den „Tommys“. Es war wohl auch eine Möglichkeit, sich spielerisch zu verständigen, weil man sich wegen der Sprachbarrieren oft nicht unterhalten konnte.

Höheren Offizieren missfällt das kleine Weihnachtswunder

Zwischen Briten und Deutschen gab es besonders viele Kontakte. Auch mit den Erzfeinden aus Frankreich wurde fraternisiert, während die Belgier mit den verhassten Besatzern aus Deutschland nichts zu tun haben wollten. Höhergestellte Offiziere, die meist erst nachträglich von den freundschaftlichen Feindberührungen hörten, äußerten ihr Missfallen. Generalleutnant William Balck, Kommandeur der 99. Infanterie-Brigade, versuchte zumindest, die Soldaten zu verstehen: „Mit dem Stellungskrieg ist eine gewisse Eintönigkeit verbunden, die leicht zur Gleichgültigkeit, schließlich zur Billigung eines Burgfriedens führen kann. Tu mir nichts, ich tue dir ganz bestimmt nichts.“ Eine solche Auffassung, die sich „weit von dem Begriff des wahren Krieges entfernt“, sei mit allen Mitteln zu bekämpfen. In einem Tagesbefehl gebot er „grundsätzliches Schießen auf alle sichtbaren Ziele, Streufeuer in unregelmäßigen Zwischenräumen, bei Tag und bei Nacht“.

Weihnachtsfrieden 1914 / Christmas Truce 1914
© Interfoto„Historische Gruppe“: So lautete die Schlagzeile über dem Bild mit deutschen und britischen Soldaten im „Daily Mirror“ am 8. Januar 1915.
Kenneth Henderson, Major des britischen Expeditionskorps, wurde sogar Augenzeuge der Vorgänge am 25. Dezember 1914 in Richebourg in Nordfrankreich, wenige Kilometer hinter Neuve Chapelle: „Ich fand das gesamte Niemandsland besetzt von einer Menschenmenge; unseren Leuten und den Deutschen, alle durcheinander, in freundlicher Unterhaltung.“ Umgehend beendete er das für ihn unvorstellbare Zusammensein. Zwei der Offiziere meldete er beim britischen Feldmarschall, John French. Für den Oberbefehlshaber des Expeditionskorps war ein solches Benehmen nicht zu entschuldigen. Es dürfe sich nicht wiederholen. Für die fraternisierenden Offiziere ordnete French eine Urlaubssperre an. Dass einige dann genau in der Zeit an der Front fielen, als sie eigentlich auf Heimaturlaub sein sollten, hat sich Henderson nie verziehen.

Fraternisierung auch in den folgenden Kriegsjahren

Unter den Gefallenen war auch Captain W.G.S. Kenny, der sich noch kurz vor seinem Tod schriftlich gegenüber Henderson zu rechtfertigen suchte: „In einem spontanen Entschluss ging ich raus, und Leutnant Welchman und Captain Pearse und einige Männer gingen mit. Zwölf oder 15 Deutsche näherten sich uns und schüttelten uns die Hand und wünschten uns frohe Weihnachten.“ Sie hätten alle zum 16. Sächsischen Regiment gehört. Das habe er in Erfahrung bringen können, weil er ein wenig Deutsch konnte. „Sie betonten, dass sie Sachsen waren und keine Preußen. Ich bat dann darum, unsere Toten beerdigen zu dürfen, die herumlagen, und dies wurde gestattet. Ich möchte betonen, dass es ein Deutscher war, der zuerst aus dem Graben stieg, und dann erst ein Engländer auf ihn zuging und ihm die Hand schüttelte.“ Feldmarschall French bedauerte nach dem Krieg seine Entscheidung und schrieb in seinen Erinnerungen: „Ich habe seitdem oft intensiv nachgedacht über die Gründe für solche Gefühle zwischen feindlichen Armeen auf dem Schlachtfeld. Ich bin nicht sicher, ob ich einem Waffenstillstand für den Tag nicht doch zugestimmt hätte, wäre ich danach gefragt worden.“

Zur Fraternisierung mit dem Feind kam es auch in den folgenden Kriegsjahren immer wieder - trotz aller Verbote und Bestrafungen. Zahlreiche Offiziere wurden wegen dieses Vergehens degradiert. Doch nie mehr verbrüderten sich spontan so viele gegnerische Soldaten wie an Weihnachten 1914, vor allem an der etwa 50 Kilometer langen Linie um Ypern herum, zwischen Diksmuide und Neuve Chapelle. Dort, im Ypern-Bogen, war noch im November besonders erbittert in der ersten Flandernschlacht gekämpft worden. Nur wenige Wochen später kamen an genau der Stelle, wo sich junge Männer über alle Grenzen hinweg die Hände geschüttelt und zusammen Fußball gespielt hatten, Tausende Soldaten ums Leben - durch den ersten Giftgaseinsatz in einem Krieg.
Weihnachtsfrieden 1914 / Christmas Truce 1914
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