Die Max-Planck-Forscherin Tania Singer versucht das Geheimnis des menschlichen Mitfühlens und der Resonanz von Gehirnen zu entschlüsseln

Wenn wir beobachten, wie sich jemand mit dem Hammer auf den Daumen schlägt, leiden wir gleichsam mit. Die Fähigkeit zu Mitgefühl und Empathie sind wichtige Voraussetzungen für das soziale Miteinander. Bislang ist allerdings erst wenig darüber bekannt, was sich in unseren Gehirnen abspielt, wenn wir empathisch sind. Professorin Tania Singer, Direktorin der Abteilung für Soziale Neurowissenschaft am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, erforscht die menschliche Empathie. Mithilfe von Magnetresonanztomografen blickt sie in die Gehirne von Probanden, um jene neurologischen Vorgänge aufzuklären, die Empathie ermöglichen. Über die Erkenntnisse aus der Empathie-Forschung sprach sie mit Norbert Lossau.

Die Welt: Fröhlichkeit oder Traurigkeit können ansteckend sein. Was weiß man über diesen Mechanismus?

Tania Singer: Diesen Mechanismus nennt man emotionale Ansteckung, und es gibt ihn auf vielen Ebenen. Wenn beispielsweise ein Mensch traurig ist, dann verändert sich die Größe seiner Pupille. Wenn ich einem solchen Menschen ins Gesicht blicke, dann verändert sich auch meine Pupille. Man könnte das Pupillen-Ansteckung nennen. Es ist auch bekannt, dass die Mimik eines Menschen beim Betrachter unwillkürlich dazu führt, dass er die Mimik seines Gegenübers imitiert. Dabei kommt es normalerweise nur zu mikromotorischen Anspannungen der entsprechenden Muskeln, sodass man den Effekt nicht unbedingt sehen kann. Doch mit Messungen kann man das durchaus nachweisen.

Die Welt: Sie selbst erforschen das Phänomen des Mitfühlens mithilfe von Magnetresonanztomografen?

Tania Singer: Ja, menschliche Empathie, also das Einfühlen in einen anderen Menschen, lässt sich mit der funktionellen Magnetresonanztomografie erforschen. Da geht es beispielsweise um das Phänomen: Sie leiden, und ich leide mit. Dazu haben wir Experimente durchgeführt. Eine Versuchsperson wird in den Hirnscanner gelegt, einer zweiten Person, die neben dem Scanner sitzt, werden kontrolliert leichte Schmerzen zugeführt. Obwohl der Proband im Scanner also selbst keine Schmerzen erleidet, werden in seinem Gehirn Teile der sogenannten Schmerzmatrix aktiviert, wenn er nur sieht, dass der andere Mensch leiden muss. Das ist affektive Resonanz, ein emotionales Mitschwingen. Dieser Versuch belegt unsere Fähigkeit, Empathie mit anderen Menschen zu haben. Und das funktioniert nicht etwa nur dann, wenn der leidende Proband eine nahestehende Person ist.

Die Welt: Dass Menschen zu Empathie fähig sind, wusste man schon, als es noch keine Hirnscanner gab. Was genau lernt man aus diesen Versuchen?

Tania Singer: Wichtig ist hier, verschiedene Formen der Empathie zu unterscheiden: eine kognitive und eine emotionale Empathie. So sprechen wir von kognitiver Perspektivübernahme, wenn wir wissen, dass der andere leidet, und das abstrakt als schlimm einschätzen, aber nicht mitfühlen. Affektive Empathie bezeichnet dann wirkliche emotionale Resonanz, bei der jene neuronalen Netzwerke aktiviert werden, die auch den eigenen Gefühlen zugrunde liegen. Das ist dann wirkliches Mitfühlen, und es kommt auch zu einer assoziierten körperlichen Reaktion. Im Englischen nennt man das "embodied cognition". Eine bestimmte Gruppe von Psychopathen hat zum Beispiel eine völlig intakte Fähigkeit zur kognitiven Perspektivübernahme, weist jedoch ein emotionales Empathiedefizit auf. Sie sind mitunter extrem gut darin, zu verstehen, was andere brauchen und wollen. Gepaart mit oberflächlichem Charme, können diese Menschen daher andere extrem gut manipulieren. Diese Psychopathen fühlen dabei nicht mit und fügen daher anderen auch ohne Probleme Leid zu. Nur wenn man wirklich mitfühlt, entsteht daraus die Motivation, dem anderen helfen und nicht wehtun zu wollen. Diese beiden sehr verschiedenen Formen von Empathie können wir mit Untersuchungen im Hirnscanner klar voneinander unterscheiden.

Die Welt: Macht uns die emotionale Form der Empathie also zu guten Menschen?

Tania Singer: Empathie allein ist noch nicht unbedingt eine gute Sache. Wenn man zu viel Empathie, zu viel Mitfühlen, zu viel Resonanz hat, dann kann dies dazu führen, dass man selbst davon so überwältigt und so sehr gestresst wird, dass man nicht prosozial handelt und dem anderen hilft, sondern sich im Gegenteil zurückzieht oder sogar aggressiv reagiert. Derartige Phänomene beobachtet man häufig bei Konflikten innerhalb einer Partnerschaft. Daher ist es sehr wichtig, die mit negativen Gefühlen verbundene Empathie umzuwandeln in ein warmes, positives Gefühl der Sorge - etwa so, wie sie von einer Mutter dem Kind entgegengebracht wird. Das ist dem Gefühl der Liebe sehr nahe. Wir bezeichnen das im Englischen als "compassion" oder als "empathic concern". Wenn es einem gelingt, Empathie in "compassion" umzuwandeln, dann besteht auch nicht mehr die Gefahr, selbst ein Burn-out-Syndrom zu entwickeln. Genau dies passiert ja leider bei vielen Menschen in Pflegeberufen. Und Ärzte reagieren auf emotionalen Stress nicht selten mit Zynismus. Niemand hat ihnen beigebracht, auf das Leid von anderen mit "compassion" und positiven Gefühlen zu reagieren.

Die Welt: "Compassion" wäre also für diese gestressten Menschen eine Emotion, die sie selbst schützen kann?

Tania Singer: Ja, so könnte man das sagen. Grob betrachtet, können wir zwischen drei wichtigen, Motivation gebenden emotionalen Systemen im Menschen unterscheiden: erstens ein Angst- und Alarmsystem. Zweitens ein appetitives System, was mit dem Wunsch einhergeht, bestimmte Ziele zu erreichen und Dinge haben zu wollen. Unser derzeitiges Wirtschaftssystem fußt vor allem auf diesem Motivationssystem, das auf Leistung und Wollen zielt. Und drittens ein affiliatives Beziehungssystem, wie es etwa zwischen Mutter und Kind existiert. Diese Bindung wird mitunter auch durch das Hormon und Neuropeptid Oxytocin vermittelt. Es wirkt beruhigend - also auch angstreduzierend - und ist mit dem Gefühl von Entspannung und Liebe verbunden. Forschungsergebnisse konnten etwa belegen, dass Menschen stärker vertrauen, wenn ihnen Oxytocin mit einem Nasenspray verabreicht wird. Das Wichtige ist nun, dass alle drei Systeme in Balance sein sollten. Wenn es ein Mensch nicht schafft, regelmäßig auch mal in den Modus von Ruhe und Entspannung zu kommen, kann das Gesamtsystem aus der Balance geraten und es irgendwann ein größeres Problem geben. Wer immerzu strebt oder nach dem nächsten Erfolg dürstet, schüttet zwar viel Dopamin aus, geht aber auch die Gefahr ein, in Suchtschleifen zu geraten - sei dies nun die Arbeitssucht, die Alkoholsucht oder noch Schlimmeres.

Die Welt: Was kann ein Betroffener tun, um aus so einem Teufelskreis wieder herauszukommen und etwa Burn-out zu vermeiden? Sollte man vielleicht Oxytocin in die Raumluft sprayen?

Tania Singer: Das wird nicht funktionieren. Das Nasenspray wirkt nicht durch die Luft und auch nur kurz, wenn in diesen Dosen als Nasenspray verabreicht. Oxytocin als Nasenspray ist ausschließlich für wissenschaftliche Zwecke interessant. Es gibt jedoch in asiatischen Traditionen bereits seit Jahrhunderten kluge Anweisungen zum mentalen Training von "compassion" und liebevollen Gefühlen. Das findet man in eigentlich allen großen Weltreligionen. Im Buddhismus gibt es etwa die Empfehlung, "compassion" in einem ersten Schritt derart einzutrainieren, dass man sich das Gesicht der Mutter oder des Kindes vorstellt und dann dieses liebevolle Gefühl immer stärker werden lässt. Damit gelingt es tatsächlich, positive Gefühle zu erwecken. Vorausgesetzt natürlich, dass es ein entsprechendes liebevolles Verhältnis zu diesem Menschen gab oder gibt. Diese Primärübung kann man später auch auf Menschen ausdehnen, die einem nicht ganz so nahestehen, und schließlich vielleicht sogar auf Menschen anwenden, die einem Schwierigkeiten bereitet haben. Dieses mentale Training ist durchaus vergleichbar mit einem Fitnesstraining - nur eben für das affektive Gehirn.

Die Welt: Was möchten Sie als Forscherin in diesem Kontext herausfinden?

Tania Singer: Eine wichtige Frage ist hier, ob es im Gehirn tatsächlich zu langfristigen strukturellen Veränderungen kommt, wenn ein Mensch seine Emotionen sowie seine emotionale Regulationsfähigkeit trainiert. Lassen sich also die Effekte von länger andauerndem mentalem Training im Gehirn nachweisen? Werden Ängstlichkeit und Stressbelastung nachhaltig verringert? Das Spannende dabei ist, dass ja nicht nur ein Individuum von positiven Effekten profitiert, sondern unmittelbar auch Mitmenschen.

Die Welt: Viele Menschen haben Angst, dass sie sich selbst verlieren könnten, wenn sie zu mitfühlend sind?

Tania Singer: Ja, diese Angst ist in unserem abendländischen Gedankengut fest verankert. Es ist dieses Entweder-oder-Denken. Entweder Egoismus oder Altruismus. Die tiefere Weisheit ist hier jedoch, dass dies gar keine Polarität ist. Es ist möglich, bei sich und auch beim anderen zu sein. Man nimmt dabei sich selbst nicht mehr als den einzigen Referenzpunkt in der Welt. Die Idee ist, dass Dinge einem selbst nutzen können - und dem anderen gleichzeitig auch. Es gibt immer zwei, die profitieren - der andere und ich.

Die Welt: Wir haben bisher nur über die Interaktion von zwei Menschen gesprochen. Doch wie sieht es mit vielen Menschen aus? Einzelne können ja emotionale Resonanz bei vielen anderen verursachen - etwa ein Musiker bei seinen Zuhörern.

Tania Singer: Aus neurobiologischer Sicht kann ich dazu wenig sagen. Es ist ja schon aufwendig genug, zwei Probanden parallel zu erforschen. Ganze Gruppen gleichzeitig in mehreren Magnetresonanztomografen zu studieren ist bislang vom Aufwand her nahezu unmöglich - sonst hätten wir solche Studien längst gemacht. Doch ich kann von einem Versuch berichten, der schon ein bisschen in diese Richtung geht. Da haben ein Proband im Scanner und ein zweiter außerhalb des Gerätes zusammen rhythmisch getrommelt. Wenn ihre Bewegungen wirklich synchron waren, wurden im Gehirn Areale aktiviert, die mit der Verarbeitung von Belohnung assoziiert sind. Wir empfinden es also als extrem angenehm, mit jemandem in rhythmische Synchronizität zu treten. Das waren zwar nur zwei Leute. Doch wenn dies bei zwei Menschen so ist, dann sollte das ganz sicher auch mit Gruppen funktionieren - zum Beispiel mit Tänzern oder Trommlern. Empirisch ist ja durchaus bekannt, dass es einfach Spaß bereitet, in großen Gruppen gemeinsam zu tanzen, zu singen oder zu trommeln. Sonst würde man das ja nicht machen. Ich würde an dieser Stelle die Hypothese aufstellen, dass dabei eine Synchronisation zwischen den Gehirnen stattfindet.