Obdachlose Deutschland
© AP Photo / Thomas Kienzle
Der 11. September ist traditionell der "Tag der Wohnungslosen". Er erinnert daran, dass in Deutschland, Europa und der Welt immer noch sehr viele - für reiche Gesellschaften - zu viele Menschen sich ohne Wohnung durchs Leben schlagen. Was sind das für persönliche Schicksale? Wie wird geholfen? Wie sehen die Zahlen aus? Sputnik auf Spurensuche.

Am Mittwoch ist "Tag der Wohnungslosigkeit". Laut der "BAG Wohnungslosenhilfe" (BAGW) gibt es derzeit etwa eine Million Wohnungslose bundesweit. Darunter fallen circa 275.000 anerkannte Flüchtlinge ohne Wohnung in Deutschland. Vermutlich sind es noch mehr, die Datenlage dazu ist unklar und meist nicht komplett zu erfassen.

Diese Zahl stellte die BAGW gemeinsam mit weiteren sozialen Einrichtungen auf einer Pressekonferenz im November 2018 in Berlin vor. Sputnik war damals vor Ort.

"Es ist ein Skandal", rief Ulrike Kostka, Direktorin des Caritasverbandes für das Erzbistum Berlin, den Medienvertretern zu. Diese Zahl sei eine absolut dramatische Zunahme. Die Bundespolitik habe versagt in ihrem Auftrag, sich um Wohnungslose und obdachlose Menschen in Deutschland zu kümmern, so ihre Kritik.

Forderungen an die Politik

Im damaligen Interview vor Ort konkretisierte die Caritas-Sprecherin ihre Kritik:

"Wir fordern, dass es eine Wohnungspolitik gibt, die wirklich auch bei den Schwächsten ankommt", sagte Kostka damals gegenüber Sputnik. "Dazu gehört, dass es mehr bezahlbaren Wohnraum gibt. Wir fordern vor allem, dass wir auch als Wohlfahrtsverbände am Wohnungs-Gipfel beteiligt werden. Es kann nicht sein, dass man nicht mit denen redet, die sich mit den Themen auskennen. Für mich ist das ein Skandal. Denn wir kümmern uns um wohnungslose Menschen."

Seit 20 Jahren kritisiert die BAGW, dass die Bundesregierung keine einheitlichen Statistiken zu Wohnungslosen in der Bundesrepublik erfasst. Dazu kommentierte die BAGW-Sprecherin Werena Rosenke auf einer Pressekonferenz in Berlin im Juli 2019, bei der Sputnik ebenfalls vor Ort war:
"Im Augenblick passiert etwas", sagte sie. "Wir haben erstmalig die Situation, dass es einen Gesetzesentwurf für eine Wohnungslosen-Statistik gibt. Dass das in den letzten 20 Jahren nicht passiert ist, führen wir schon darauf zurück, dass die jeweiligen Bundesregierungen politisch nicht daran interessiert waren, Zahlen dazu zu erheben."
"Caritas"-Forderung: Zehn Taten gegen Wohnungsnot

"Zum Tag der Wohnungslosen rufen der Deutsche Caritasverband (DCV) und seine Katholische Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (KAGW) dazu auf, sich aktiv gegen Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit einzusetzen", meldete die Pressestelle des Deutschen Caritasverbandes am Dienstag.

Die Sozialinstitutionen fordern dabei aktuell "zehn Taten gegen Wohnungsnot". Die Politik habe dazu konkrete Lösungswege zu beschreiten. Unter den Forderungen an die Bundespolitik lassen sich "die Steigerung des öffentlichen, gemeinnützigen und genossenschaftlichen Wohnungsbestands", der "Stopp von Wohnungs-Leerstand" oder auch die Idee finden, "Kirche und ihre Caritas müssen selbst neuen preisgünstigen Wohnraum schaffen oder günstiges Bauland aus kirchlicher Hand zur Verfügung stellen." Nach Caritas-Informationen unterstützen mehr als 400 katholische Einrichtungen und Dienste in ganz Deutschland Obdachlose, Wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen.

Rechtlicher Hintergrund

Nicht zuletzt ist es das Gesetz, welches alle Städte und Kommunen sowie die Politik in Deutschland dazu verpflichtet, gegen das Elend auf der Straße etwas zu tun.

Nach geltendem Ordnungsrecht müsse jede Kommune, also jede Stadt und jeder Ort in Deutschland, Wohnungslose "menschenwürdig unterbringen". Das sei leider nicht immer der Fall. "Was seit drei Jahren ein Problem ist, ist die Unterbringung von wohnungslosen Menschen, die aus dem Bereich der Europäischen Union kommen", sagte Dr. Thomas Specht, Fachreferent für Sozialhilfe- und Armutspolitik, Wohnungslosigkeit und Sozialrecht bei der BAGW, in einem Sputnik-Interview im Januar 2018.
"Hier sind manche Kommunen der Meinung, sie hätten da keine Rechtsverpflichtung, die unterzubringen. Das trifft aber nicht zu. Das ist rechtswidrig. Deshalb haben wir auch auf der Straße überproportional viele EU-Bürger, eben weil die Kommunen nicht bereit sind, das Problem angemessen zu lösen."
Problematisch sei, dass viele EU-Bürger keine Unterbringung durch die Kommunen erhalten - trotz eindeutiger Rechtslage.

Winter kommt: Kältetote drohen

Der Sommer neigt sich dem Ende, dann kommen die kalten Jahreszeiten. Menschen sind der Kälte im Winter besonders schutzlos ausgeliefert und damit auch besonders gefährdet. Daher fordert die BAGW seit Jahren:
"Der Kältetod von wohnungslosen Menschen muss verhindert werden!", so die Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe in einer früheren Presseerklärung.
Die BAGW gibt wie "Caritas" und "Diakonie" sowie viele andere Sozialeinrichtungen jährlich Tipps für Wohnungs- und Obdachlose heraus.

Hinweise für Wohnungslose im Winter

"Man sollte auf jeden Fall eine Unterkunft aufsuchen", erklärte BAGW-Vertreter Specht in einem früheren Sputnik-Interview. "Wenn man nicht weiß, wo die sind, kann man das im Internet nachschauen. Man kann auch einfach bei der Diakonie, bei der Caritas oder bei der Arbeiterwohlfahrt anrufen. Wenn man in eine solche Unterkunft nicht reinmöchte, dann sollte man auf jeden Fall versuchen, in eine Kleiderkammer zu gehen, um dort was zu finden." Das Risiko des Erfrierens sei in kalten Winternächten "sehr groß."

Neues Angebot: Portal für Wohnungslose

Früher sei es für Wohnungslose nicht immer leicht gewesen, Anlauf- und Beratungsstellen in der Nähe ausfindig zu machen. "Es gab keine zentrale Anlaufstelle für die Hilfsstellen", erklärten Vertreter der BAGW auf einer Pressekonferenz zur Vorstellung eines neuen Online-Portals im März 2018 in Berlin.

Dieses ist seit Ende Dezember 2017 im Internet erreichbar unter www.woundwie.de. "In dem Portal haben wir etwa 1200 Adressen von Diensten mit Angeboten im Wohnungsnotfall verzeichnet, die auch ständig erweitert werden", sagte Rosenke nach der Pressekonferenz im Sputnik-Gespräch.

Wohnungslosen-Hilfe: Erfolge in Berlin und Hessen

In Berlin-Moabit existiert seit vielen Jahren die Einrichtung "Warmer Otto", eine Institution und Anlaufstelle für obdach- und wohnungslose Menschen oder für solche, die von Wohnungsverlust bedroht sind.
"Die Möglichkeiten zur Hilfe, die wir haben, sind sehr unterschiedlich", erklärte Karsten Krull, Leiter der Wohnungslosentagesstätte, im November 2018 gegenüber Sputnik vor Ort bei einer Pressekonferenz. Wie vielen Menschen er dort bisher schon geholfen habe, könne er kaum beziffern. "Aber es gibt schon Einige, denen wir helfen konnten", sagte er.
Erst am Dienstag meldete die Lokalpresse in Hessen, dass es "seit über 20 Jahren das Caritashaus des Caritasverbands Wetzlar/Lahn-Dill-Eder gibt." Es sei "Anlaufstelle für wohnungslose Männer und Frauen aus dem Lahn-Dill-Kreis und für solche, die kurz davorstehen, ihre Wohnung zu verlieren."

Die Menschen, "die wir begleiten, haben meist mit existenziellen Problemen zu kämpfen", berichtete in dem Zeitungsbericht Sieghard Mackel, Leiter des Caritas-Hauses. "Dazu gehören Überschuldung, Sucht und psychische Erkrankungen, Straffälligkeit und Verlust der Familie und eines sozialen Umfeldes". Aus eigener Kraft könnten nur wenige diese Schwierigkeiten überwinden.

Auf dem freien Wohnungsmarkt haben seine Klienten wenige Chancen, weiß "Caritas"-Sprecher Mackel. Daher sei es umso notwendiger, dass soziale Einrichtungen wohnungslosen Menschen unter die Arme greifen und ihnen dabei helfen, wieder den Fuß in eine eigene Wohnung zu bekommen.

Das Radio-Interview mit Dr. Thomas Specht ("BAGW") zum Nachhören:


Radio-Feature mit Prof. Dr. Ulrike Kostka ("Caritas") und Karsten Krull ("Warmer Otto"):


Das Radio-Interview mit Werena Rosenke ("BAGW"):