Dies ist keine Abhandlung über verschiedene Maßeinheiten. Es tut mir leid, Sie diesbezüglich enttäuschen zu müssen. Die beiden Phrasen im Titel sind eigentlich aus Literatur und Film geborgt. Das "letzte Bisschen" stammt aus dem Kinofilm des Jahres 2005 V wie Vendetta, während der "Kubikzentimeter des Glücks" aus einer Buchserie von Carlos Castaneda stammt, in der er über seine Erfahrungen als Lehrling eines mexikanischen Mannes des Wissens, Don Juan Matus, berichtet. Was können diese beiden Bezeichnungen nur gemeinsam haben?
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© V wie Vendetta
Lassen Sie mich vorneweg den betreffenden Ausschnitt aus dem Film V wie Vendetta zitieren. Die Bezeichnung "das letzte Bisschen" stammt (lediglich meiner Meinung nach) aus einer der wichtigsten Szenen im Film, in der dem Publikum ein Rückblick auf vergangene Ereignisse in Form einer Autobiographie gewährt wird. Der Autor der Autobiographie, Valerie, schreibt folgendes:
Unsere Integrität hat so einen geringen Preis; aber eigentlich sie ist alles, was wir wirklich haben. Sie ist das allerletzte Bisschen von uns; aber innerhalb dieses Bisschens sind wir frei. [...] Ich werde hier sterben. Jedes Bisschen von mir wird zugrunde gehen. Jedes Bisschen. Bis auf eins. Ein Bisschen. Es ist klein und zerbrechlich und das einzige in der Welt, das das Leben lebenswert macht. Wir dürfen es niemals verlieren oder verschenken. Wir dürfen niemals dulden, dass sie es uns wegnehmen.
Was ist Integrität und warum ist sie so wichtig?

Das englische Oxford Wörterbuch definiert Integrität als:
  1. Der Zustand, in dem kein Teil oder Element fehlt oder benötigt wird; ungeteilter oder ungebrochener Zustand; materielle Ganzeit, Vollständigkeit, Gesamtheit
  2. Etwas ungeteiltes; ein vollständiges Ganzes
Die etymologische Wurzel ist das lateinische Wort integritas, was 'Ganzheit, Vollständigkeit, Komplettheit, Unberührtheit, Reinheit' bedeutet, und integer, was 'ganz' bedeutet.

Eine Person mit Integrität könnte also dahingehend beschrieben werden, dass all ihre Gedanken und Handlungen auf einem felsenfesten Fundament aufbauen; auf einem unerschütterlichen und unzerstörbaren 'Etwas', das alles zusammenhält. Dieses 'Etwas' könnte als das Selbst angesehen werden; ein Gefühl von Kontinuität, das dem Leben Bedeutung verleiht. Die meisten von uns würden behaupten, dass wir dieses 'Etwas' - dieses unerschütterliche Gefühl des 'Ichs' - tatsächlich besitzen; zu behaupten, es nicht zu haben, würde wohl gelten, als verrückt angesehen zu werden.

Georges I. Gurdjieff, der Mystiker der Neuzeit, fügt zu dieser Diskussion etwas Kontroverse hinzu; er sagte:
Es ist ein großer Fehler zu denken, dass ein Mensch immer ein- und derselbe bleibt. Ein Mensch ist auf lange Sicht niemals derselbe. Er verändert sich laufend. Und das sein ganzes Leben lang.
Man stelle sich ein Land vor, wo jeder fünf Minuten lang König sein darf und währenddessen mit dem ganzen Königreich anstellen kann, was er möchte. So ist unser Leben.
In erster Linie sagt Gurdjieff hier also, dass Menschen keinerlei Integrität besitzen, kein festes Fundament, auf dem das Leben solide stehen könnte. Er sagt sogar, dass das Leben einer Person mit einem Land verglichen werden kann, in dem ein Zustand des Chaos und der Anarchie herrscht. "Unmöglich!" möchte man sagen. Man möchte auch denken, dass man ein ganzes Leben lang 'man selbst' bleibt: bewusst und fähig, für jeden Gedanken und für jede Aktion in jeder Sekunde Rechenschaft ablegen zu können, genauso wie gerade jetzt. Aber können wir das wirklich?

Um eine weitere Perspektive hinzuzufügen, soll hier A. R. Orage zitiert werden, der im Jahr 1925 folgenden Ausschnitt als Teil seiner Abhandlung Sind wir Wach? schrieb:
Es gibt eine traditionelle Doktrin, die üblicherweise mit Religion in Verbindung gebracht wird, aber hie und da in die große Literatur eindringt. Es geht um jene Doktrin, die besagt, dass wir in unserem gegenwärtigen Wachzustand nicht wirklich wach sind. Es ist natürlich kein Nachtschlaf, keine Mondsucht oder Schlafwandeln; aber es ist, so sagt diese Tradition, eine spezielle Art des Schlafens, die mit hypnotischer Trance verglichen werden kann, in der es jedoch keinen Hypnotisten, sondern lediglich Suggestion und Autosuggestion gibt.
Aber wie können wir erkennen, ob wir uns tatsächlich in einer Art Schlaf befinden, wenn wir doch anscheinend wach sind? Und zwar so, indem wir auffallende Gemeinsamkeiten beider Hauptzustände des Bewusstseins, Schlafen und Wachen, herausfinden. Was sind zum Beispiel die auffälligsten Merkmale unseres herkömmlichen Schlafes, die wir mittels unserer Träume erinnern? Der Traum passiert einfach; wir starten ihn weder bewusst, noch können wir die Traumfiguren und Ereignisse absichtlich erzeugen. Und genau in diesem Punkt ist unser waches Leben genau wie der Schlaf: wir bestimmen weder unsere zu machenden Erfahrungen im Vorhinein, noch erschaffen wir die Darsteller und Ereignisse des Alltags.
Ein weiteres gemeinsames Element unseres Schlaf- und Wachzustandes ist die Veränderlichkeit unserer Handlungsweisen: Wenn wir uns daran erinnern, wie wir in einem Traum gehandelt haben, sind wir manchmal darüber entsetzt und manchmal darüber erfreut. Wir hätten nicht anders handeln können, unabhängig davon, ob die Handlung für uns beschämend oder aufbauend war. Die Besorgnis oder Zufriedenheit über die Handlung scheint ausschließlich eine nachträglich Offenbarung unseres unterbewussten Ichs zu sein. Wie unterscheidet sich dies vom 'wachen Traum des Lebens'? Auch im 'wachen Traum des Lebens' sind wir entweder traurig oder erfreut; dies passiert jedoch nicht geplant, sondern einfach so; und es ist von unserem Stolz abhängig, ob wir Reue oder Zufriedenheit verspüren. Können wir wahrlich schon vor einem Ereignis bestimmen, dass wir uns - egal, was auch passieren möge - so-oder-so verhalten, und nicht andersherum? Sind wir nicht an die Suggestionen des Moments ausgelierfert und bedingt durch Ärger, Gier und Enthusiasmus gezwungen, uns von unserer ursprünglichen Beschlussfassung zu distanzieren? Genauso wie im Traumschlaf überrascht uns unser waches Leben immer wieder aufs Neue, und wir handeln beständig so, wie wir es uns zuvor nicht vorstellen konnten.
Es stimmt zwar, dass wir in unserem wachen Leben einen mehr oder weniger durchgängigen Erinnerungsstrom haben, während unsere Träume aus mehr oder weniger unterbrochenen Erinnerungen bestehen. Aber abgesehen von diesem spezifischen Unterschied scheint sich unsere Erinnerung in beiden Fällen ziemlich gleich zu verhalten. Wir wissen, wie schwierig es ist, sich an einen Traum der letzten Nacht zu erinnern: der Traum ist lebhaft; beim Aufwachen wissen wir sämtliche Details. Aber nach nur wenigen Momenten ist alles wieder verschwunden, so dass nicht einmal Errinerungswracks zurückbleiben. Die Erinnerungen an den gestrigen 'wachen Traum des Lebens' sind im Wesentlichen nicht so tückisch, aber dennoch: wo ist heute das lebhafte Detail von gestern? Wir sahen ganz klar tausendundein Objekte, wir waren sogar in ihrer unmittelbaren Gegenwart. Wir hörten zu, wir sprachen, wir beobachteten Menschen und Dinge auf der Straße, lasen Bücher oder Zeitungen, lasen und schrieben Briefe, wir aßen und tranken und taten oder sahen eine unzählbare Fülle an Objekten und Handlungen. Und das war erst gestern, das war der lebhafte 'wache Traum' von gestern. Wieviele Details blieben in unserem Gedächnis? An wieviele Details könnten wir uns maximal erinnern, wenn wir uns anstrengen? Genauso vollständig wie die Träume der Nacht verklingt der Großteil unseres gestrigen 'wachen Traum des Lebens' in die Vergessenheit unseres Unterbewusstseins.
Orage behauptet hier also zusammengefasst, dass wir den Großteil unseres Lebens - wenn nicht das ganze Leben - in einem Zustand des 'wachen Schlafes' verbringen. Wir können unser Leben nicht besser steuern als unsere nächtlichen Träume. Dinge scheinen einfach 'zu passieren' und wir reagieren lediglich darauf. Wir sind "ausgeliefert an die Suggestionen des Moments und gezwungen, uns bedingt durch Ärger, Gier und Enthusiasmus von unserer ursprünglichen Beschlussfassung zu entfernen". Wenn wir zurückblicken, sind wir oft 'überrascht', wie wir manchmal gedacht oder gehandelt haben und sind darüber entweder froh oder beschämt. Es ist, als ob immer wieder andere Teile unserer Persönlichkeit das Kommando übernehmen, abhängig davon, welche Umstände gerade im Leben auftreten. Manchmal ist es sogar so, als ob wir nicht einmal 'wir selbst' sind, und das einzig Ähnliche zu Integrität lediglich die tief verwurzelte Illusion einer Kontinuität in unserem Leben ist.

Ich würde gerne sagen können, dass die oben erwähnten Ideen veraltet und unwahr sind; dass sich die zitierten Personen irrten - aber das ist nicht der Fall. In Wirklichkeit ist es sogar so, dass, je mehr menschliche Psychologie wissenschaftlich erforscht wird, die obengenannten Ideen sogar Arbeitshypothesen unter modernen Psychologen werden. Obwohl in Fachsprache formuliert, sagen die Hypothesen im Wesentlichen das gleiche - das wir Menschen nicht 'wir selbst' sind.

Ein erst kürzlich publiziertes Buch (2002) von einer in Harvard studierten Psychologin, Dr. Martha Stout, mit dem Titel The Myth of Sanity, Divided Consciousness and the Promise of Awareness[1] behandelt dieses Thema mittels wegweisender klinischer Forschung. Während Philosophen und Künstler dieses Problem schon früher identifiziert hatten und versuchten, die Folgen darzustellen, gehen Psychologen wie Stout wissenschaftlich an das Thema heran und versuchen, die Ursachen an der Wurzel zu beschreiben. Dr. Stout schreibt:
Was wir als einen ununterbrochenen Strom des Bewusstseins wahrnehmen, ist stattdessen eher eine Kette von unterbrochenen Fragmenten. Unser Bewusstsein ist geteilt. Unsere Persönlichkeiten sind viel öfter als wir denken fragmentiert - d.h. sind desorganisierte Gruppenanstrengungen mit dem Ziel, mit der Vergangenheit fertig zu werden - anstatt des normalen, einheitlichen Ganzen, das wir in uns selbst und in anderen Menschen erwarten.
Dissoziation scheint der Täter zu sein, der den 'wachen Schlaf' im Leben verursacht. Dissoziation ist "die allgemeine, menschliche Reaktion auf extreme Angst oder Schmerz, die es erlaubt, emotionale Inhalte - der fühlende Teil des 'Ichs' - vom Wachbewusstsein abzutrennen". Es ist ein Überlebensmechanismus, der unsere Körper auf Autopilot schaltet und entscheidet, ob wir lebensbedrohlichen Situationen ins Auge sehen oder vorr ihnen auf primitive Weise fliehen, z.B. ohne bewusstes Denken, das uns in größeres Risiko versetzen könnte. Das alles wäre ja schön und gut; Dr. Stout schreibt aber:
Zur Dissoziation fähig zu sein ist, wie wenn man einen unbegrenzten Vorrat an durchschnittlich bis guten Narkotika zur Verfügung hat, die keinen Gewöhnungseffekt hervorrufen. Spätestens wenn wir erwachsen sind, wird diese Analgesia [2] so leicht ausgelöst, dass Trauma, überwältigende Angst oder Schmerzen gar nicht mehr notwendig sind, um Dissoziation einzuleiten. Da die Umstände in manchen Situationen oft Angst provozieren, schwierig oder einfach nur unsicher sind, nehmen wir durch Narkose Ausweg aus der Gegenwart. Die Bewusstheit wird dabei - oft unbemerkt - wiederholt ein- und ausgeschaltet, genauso als ob die Nüchternsten unter uns lebenslange Drogenabhängige wären.Die übermäßig eingelernte Verhaltenseise des 'Erwachsenseins' arbeitet in diesen Momenten eifrig weiter. Unser Leben läuft schon so lange auf diese Art ab, dass wir über die erwähnten mentalen Vorgänge nicht intensiver als über das Atmen nachdenken. [...]
Im Endeffekt macht das Gedächtnis eines Erwachsenen so etwas ähnliches wie ein altmodisches Kinetoskop. Es besteht aus einem Guckloch, durch das eine bewegte Rolle mit Bildern darauf beobachtet werden kann, die zusammen einen bewegten, ungeteilten, ganzen Bewegungsablauf bilden. Obwohl wir es gerne vergessen, sind unsere Leben mit unzähligen, ungewollten, blanken Bereichen von fehlendem Bewusstsein durchzogen.
Dr. Stout sagt hier, dass der moderne Mensch als Spezies die Gewohnheit entwickelt hat, eine natürliche Funktion, die Dissoziation, zu überbeanspruchen, soass sie sogar in nicht lebensbedrohlichen Situationen eingeleitet wird. Der Durchschnittsbürger einer 'entwickelten, moralischen Gesellschaft' wird nur mehr selten in lebensbedrohliche Situationen kommen. Die moderne Art zu leben ist jedoch viel heimtückischer geworden, indem sie Personen mit reichlichen Mengen Stress bombardiert; Stress, der sehr oft Episoden der Dissoziation verursacht. Betrachten wir folgende Pressemitteilung vom Dezember 2006:

Gestresst? Eine neue Umfrage sagt, dass Sie sind nicht alleine sind!



21. Dezember 2006, CBC News

Stress - dieses angespannte Gefühl, das oft mit zuviel Arbeit, zuvielen Rechungen, zuwenig Zeit oder zuwenig Geld in Verbindung gebracht wird - scheint ein verbreitetes Gefühl zu sein, das keine Ländergrenzen kennt.

Nach einer Umfrage von AP-Ipsos sagen etwa drei Viertel aller Menschen in Kanada, den Vereinigten Staaten, Australien, Frankreich, Deutschland, Italien, Südkorea und England, dass sie täglich Stress verspüren. Etwas über drei Viertel aller Menschen in Kanada (76%) sagten aus, dass sie Stress manchmal oder öfters pro Tag verspüren. 32% der Kanadier benannten als den wichtigsten Grund für Stress ihren Job, 28% ihre Finanzen.

Spanier sind mit 61% nicht so aufgezogen wie Menschen der meisten anderen Länder. Sie können sich alle ein Vorbild an Mexiko nehmen, wo mehr als die Hälfte der Menschen aussagt, selten oder niemals Stress in ihrem täglichen Leben zu empfinden.

Aber - speziell für Frauen - trifft das nicht in den anderen 10 befragten Ländern zu.

Als vor Kurzem das Wort 'Stress' in Gegenwart von Heidi Zabit aus Durham, Connecticut, USA, erwähnt wurde, schien es ein Bündel Nerven zu treffen.

"Mein Leben ist derzeit so stressig, dass ich fast explodiere", sagte Zabit, eine Anwaltsassistentin und Mutter von drei Kindern. "Der finanzielle Stress bringt mich fast unter den Tisch. Nach einem vollen Tag Arbeit gibt es Essen und wir machen Hausübungen. Spätestens um 21 Uhr bin ich 'durchgebraten.'"

"Und der Stress wird durch die Ferien vergrößert," sagte sie. "Sie leiern uns komplett aus, sie leiern unsere Kinder aus, bis hin zu unseren Hoffnungen und Erwartungen."

Deutsche fühlen Stress intensiver als andere befragte Länder. Menschen in den Vereinigten Staaten benennen finanziellen Druck als Hauptursache von Stress. Etwa die Hälfte der Leute in England sagten, dass sie manchmal oder häufig fühlten, dass sie über ihr Leben keine Kontrolle mehr hätten; das ist die größte Ausformung von Stress unter allen 10 befragen Ländern.

In den meisten anderen Ländern sagten Männer aus, dass ihre Leben eher niemals außer Kontrolle wären.

"Die Idee, dass wir Franzosen eine gute Lebensweise vorzeigen, ist völlig utopisch", sagte Pascale Mongay, ein Berater von einer privaten Pariser Firma. "Wir sind genauso gestresst, wie jeder andere auch."

Und so haben die Länder abgeschnitten:
  • Südkorea (81 Prozent der Bevölkerung fühlt regelmäßig Stress)
  • Australien (77 Prozent)
  • Kanada (76 Prozent)
  • Frankreich (76 Prozent)
  • England (76 Prozent)
  • USA (75 Prozent)
  • Deutschland (75 Prozent)
  • Italien (73 Prozent)
  • Spanien (61 Prozent)
  • Mexico (45 Prozent)
Es ist doch ironisch, dass das, was wir als die 'zivilisiertesten Nationen der Erde' bezeichnen, den Großteil ihrer Bewohner auf täglicher Basis stresst. Die Folgen sind offensichtlich: es werden Lebensstile gefördert, die nicht eigenständiges Bewusstsein, sondern Automation hervorbringen; Lebensstile, die nicht wahrlich gelebte Leben hervorbringen, sondern Leben voller Routinen, die leicht zu vergessen und unerfüllend sind. Aber am Schlimmsten ist, dass die meisten von uns zerrüttelte, dissoziierte Leben führen - in diesen Fällen gibt es nicht viel, was an Integrität übrig bleibt; nur die Illusion von Integrität.

Was hat diesen entsetzlichen Zustand verursacht? Dazu brauchen wir uns nur die problematische Geschichte der Menschheit ansehen, erklärt Dr. Stout:
Mühsal und Überlebenskampf haben uns durch die Zeithalter hindurch mit einem hormonell-aggresiven Temperament und mit einem wir-gegen-sie Verhaltensmuster ausgestattet. Es ist die Gesetz-des-Dschungels Logik, die nicht weiterentwickelter ist als das: "Er ist anders. Töte ihn." Dieses Muster ist die Basis scheinbar grenzenloser Gewalt, nahezu allem Hass, Vergeltung, Vorurteilen, Engstirnigkeit und anderer archaischer Veranlagungen, die uns nun auf unserem eigenen Planeten elend machen. Dieses Muster hat unsere Geschichte als durchgehend traumatisierte Gruppe dirigiert.

[...]

Wir sind eine vollends durchgerüttelte Spezies. Obwohl wir nicht alle als Kind missbraucht wurden, haben wir Erfahrungen durchlebt, die wir als schreckenserregend empfunden haben. Unsere aufrichtigen Versuche, diese Erfahrungen zu verstehen und zu bewältigen, reizten uns aufs Äußerste aus. Viele von uns haben aus einer von Problemen geschüttelten, oft bedrohlichen Welt wiederholt schädliche Dosen sekundärer Traumen abbekommen; sei es über geliebte Menschen oder sogar über unpersönliche Medien. Als Resultat unserer Geschichte und unserer angeborenen Neigung zur Dissoziation - jedes Mal, wenn unser Geist Schutz braucht - , ist der übliche mentale Zustand aller Menschen ein mäßig dissoziiertes Bewusstsein.
Der letzte Satz sollte uns zum Nachdenken anregen. Demnach sind wir alle im Prinzip mäßig geistig erkrankt.

Aus Valeries Zitat sehen wir, dass Integrität "eigentlich alles ist, was wir wirklich haben ... und das einzige in der Welt, das das Leben lebenswert macht". Der Punkt ist, dass wir Integrität in unserer gegenwärtigen materialistischen Gesellschaft zum Großteil längst schon verloren haben. Es ist nicht Zufall, dass Valerie uns davor warnt, dass Integrität so wenig zählt. Denn unsere eigene Gesellschaft entzieht uns jedes einzelne Bisschen davon durch Stress jeglicher Art; sei es der Stress, fragwürdigen, gekünstelten Standards zu entsprechen, oder der Stress, unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen finanziell zu überleben. Dieser Stress führt zur Dissoziation und folglich zur Auflösung unseres Bewusstseins, unseres "Ichs". Unsere Integrität ist alles, was wir besitzen. Valerie warnt, dass wir "es niemals verlieren oder verschenken [dürfen]. Wir dürfen niemals dulden, dass sie es uns wegnehmen." In der Tat, Integrität ist, was uns menschlich hält. Und diese Menschlichkeit ist etwas, das uns schnell aus dem Leben entgleitet.

Im gnostischen Evangelium nach Thomas wird festgehalten, dass Jesus angeblich sprach: "Wer das Ganze erkennt, sich selbst aber verfehlt, verfehlt das Ganze. [...] Wenn er ganz ist, ist er voller Licht; aber wenn er geteilt ist, wird er voller Dunkelheit sein." Das bedeutet, dass wir sprichwörtlich alles zu verlieren haben, wenn wir unsere Integrität 'verschenken'. Die einzige Hoffnung besteht nur darin, sie wiederzugewinnen und um sie zu kämpfen. Falls wir dies nicht machen, erklärt Dr. Stout:
[...] unsere Alternative ist, weiterhin in einer Situaion zu verbleiben, die an eine Science Fiction-Serie erinnert. Die ansonsten bewundernswerten Hauptdarsteller sind in einer dicht geschlossenen "Zeitschleife" gefangen und begehen immer und immer wieder dieselben Galaxie-erschütternden Fehler; nicht wissend, dass sie diese Fehler schon unfassbar oft wiederholt haben.
Ein genaues Studium der Geschichte zeigt, dass die Menscheit - unabhängig von geringfügigen Unterschieden, wie z.B. technologische Entwicklung - in so etwas wie einer eigenen "Zeitschleife" feststeckt. Ganze Zivilisationen und Imperien entstehen und fallen; wir kämpfen immer dieselben Kriege (wenn auch immer tödlicher) und lassen zu, dass uns zweifelhafte Unterschiede voneinander trennen. Alles in Allem wiederholen wir als Spezies und als einzelne Menschen ebenfalls "Galaxie-erschütternde" Fehler immer und immer wieder - weil wir gedankenlos diesem Paradigma entsprechen.

Wenn wir wahrlich erfüllte Leben führen wollen (und die meisten von uns wollen das), kann es so nicht länger weitergehen. Zuallererst ist es notwendig zu wissen, dass Dissoziaton in unserem Alltag auftreten kann - wir müssen fähig sein, dieses Muster in uns und auch in Menschen um uns in Aktion zu erleben. Orage beendet seine Abhandlung mit folgenden Worten:
Es könnte befürchtet werden, dass meine vorigen Spekulationen krankhaft sind; und dass die Anstrengung, unser waches Leben als eine spezielle Form des Schlafes zu sehen, nicht so wichtig ist. Aber eine ablehnende Haltung dieses möglichen und wahrscheinlichen Faktums gegenüber ist in sich selbst krankhaft ängstlich. Die Wahrheit ist eher, dass - wie auch in Träumen - die Erkenntnis, dass man träumt, das erste Anzeichen des Erwachens ist. Nach demselben Prinzip ist das erste Anzeichen des Erwachens aus dem 'Wachzustand' die Vermutung, dass dieser wie ein Traum ist - es ist das Erwachen nach dem Erwachen aus der Religion. Uns bewusst zu sein, dass wir schlafen, bedeutet, dass wir am Punkt des Erwachens sind; und sich bewusst zu sein, dass man nur teilweise wach ist bedeutet, dass wir wacher werden können.
Dr. Stout erarbeitet ebenfalls eine Lösung für das Problem:
Von einem evolutionären Standpunkt aus gesehen sind wir eine junge Spezies. Das Phänomen des Bewusstseins - angeblich der Anspruch auf unseren Ruhm - ist extrem neu für uns. Wir sind darin erst Anfänger.

[...]

Die speziell menschliche Frage lautet nicht, "Können wir uns an Traumen anpassen und überleben?", sondern "Können wir jetzt unsere Erinnerungen und Traumen aufarbeiten und wahrlich zu leben beginnen?" Eine solche Entwicklung würde den Beginn einer neuen und höheren Ebene menschlichen Funktionierens markieren. Und wenn wir überhaupt weitermachen wollen, müsste dieser Übergang besser relativ bald kommen, möglicherweise schon in diesem Jahrtausend.
Bitte bemerken Sie, dass Dr. Stout den Abgrund anerkennt, auf den die Menschheit gerade zugeht, um entweder kopfüber in eine dauerhafte "Zeitschleife" dissoziativer Vergesslichkeit und möglicher Vernichtung zu stürzen, oder umkehrt, dem Problem durch Anwendung von bewusster Aufmerksamkeit begegnet. Letzterer Fall ist der Weg in Richtung wahres Leben, Ersterer kann nur zu geistigem Tod und, im Wesentlichen, Nicht-Existenz führen.

Nun kommen wir endlich zu Don Juans Redewendung, dem "Kubikzentimeter des Glücks." Nach diesem mexikanischen Mann des Wissens benötigt man, um Bewusstsein über sich selbst zu gewinnen, eine gewisse Entschlossenheit - Entschlossenheit, seine eigenen negativen Emotionen zu kontrollieren. In diesem Sinne sagt Don Juan:
Selbstherrlichkeit ist der größte Feind des Menschen. Es schwächt, sich von den Taten und Missetaten seiner Mitmenschen angegriffen zu fühlen. Bedingt durch die Selbstherrlicheit verbringen wir den Großteil des Lebens damit, uns angegriffen zu fühlen.
Die Schwächung tritt auf, weil wir Dinge persönlich nehmen - wir fühlen uns als ob wir mehr verdienen würden, als wir tatsächlich bekommen. Diese Art zu denken macht uns übermäßig emotional, lässt uns als Opfer fühlen, macht ärgerlich und gierig. Erinnern Sie sich, dass traumatische, emotionale und stressige Umstände oft dissoziative Zustände auslösen. Wenn wir jedoch aufmerksamer gegenüber solchen automatischen, egoistischen Reaktionen werden und alles weniger subjektiv, dafür in objektiverem Licht betrachten, können wir den Effekt schwächen, den Dissoziation in unserem Alltag anrichtet. Wenn wir das schaffen, können wir das werden, was Don Juan als Krieger bezeichnet:
Der Hauptunterschied zwischen einem herkömmlichen Menschen und einem Krieger ist, dass der Krieger alles als Aufgabe und Herausforderung sieht, während ein herkömmlicher Mensch alles subjektiv als Segen oder Fluch bezeichnet.
Das ist natürlich ähnlich zu dem, was Orage meinte, als er über den "wachen Schlaf" schrieb und die Faktoren, die uns in einem Trance-ähnlichen Zustand versetzen:
Auch im 'wachen Traum des Lebens' sind wir entweder traurig oder erfreut; jedoch nicht geplant, sondern gerade wie es passiert; und es ist von unserem Stolz abhängig, ob wir Reue oder Zufriedenheit verspüren. Können wir wahrlich schon vor einem Ereignis festlegen dass wir - egal, was auch passieren möge - uns so-und-so verhalten, und nicht andersherum? Sind wir nicht an die Suggestionen des Moments ausgeliefert und durch Ärger, Gier und Enthusiasmus gezwungen, uns von unserer ursprünglichen Beschlussfassung zu distanzieren?
Der Schlüssel ist hier Bewusstsein über sich selbst - uns abzufangen bevor wir durch negative Emotionen und Stress in ein Niemandsland dissoziieren. Dieses 'Abfangen' wird auch Selbstbeobachtung genannt, was viel Arbeit und Wachsamkeit verlangt. Don Juan erklärt dies, indem er auf den "Kubikzentimeter des Glücks" verweist:
Es gibt da etwas, dass du jetzt eigentlich schon wissen müsstest. Ich nenne es den Kubikzentimeter der Möglichkeit. Jeder von uns, ob sie nun Krieger sind oder nicht, haben einen Kubikzentimeter der Möglichkeit, der von Zeit zu Zeit vor uns auftaucht. Der Unterschied zwischen einem herkömmlichen Menschen und einem Krieger ist jener, dass sich der Krieger dessen bewusst ist. Denn einer seiner Aufgaben ist es, auf der Hut zu sein und absichtlich zu warten, so dass, wenn sein Kubikzentimeter auftaucht, er schnell genug ist und sein Geschick einsetzen kann, um ihn wahrzunehmen. Möglichkeit, Glück, persönliche Macht, oder wie auch immer du dazu sagst, ist ein spezieller Umstand der Dinge. Es ist wie ein kleiner Sprössling, der vor uns herauskommt und uns einlädt, ihn zu pflücken. Üblicherweise sind wir zu beschäftigt, zu voreingenommen, zu dumm oder faul zu realisieren, dass es unser Kubikzentimeter des Glücks sein kann. Ein Krieger ist jedoch immer aufmerksam, gespannt, hat die Sprungkraft und den Mumm, ihn zu schnappen.
Einfach ausgedrückt, der "Kubikzentimeter des Glücks" bezeichnet eine flüchtige Erkenntnis bzw. einen Moment der Wahrheit sich selbst gegenüber, in dem wir einen Blick auf unseren eigenen Schlafzustand erhaschen können; und wenn wir willig und bereit sind, wird er - in verschiedensten Lebenssituationen - zum 'pflücken' verfügbar. Wie Don Juan jedoch erklärt, verschwenden viele von uns diese Gelegenheit, indem sie nicht aufmerksam sind und die Dinge einfach 'geschehen' lassen. Ein Krieger, jemand der wahrlich aufmerksam ist, kann den "Kubikzentimeter des Glücks" erkennen und ihn sich zu Eigen machen - d.h., diesen Moment des Lebens wahrlich zu Eigen machen. Und darum, so denke ich, geht es bei alledem: wahrlich zu leben und nicht einfach gedankenlos und nur zum Schein agieren, so wie wir es üblicherweise tun; nicht zu dissoziieren und im Wachschlaf mechanisch durch den Tag zu gehen, aber jeden Moment als Herausforderung zu nehmen und ihn zu umarmen. Ein fernes Echo des Wissens um den Zustand der Aufmerksamkeit und Wachsamkeit klingt im heute weithin üblichen Ausdruck "Leben im Jetzt" wieder; aber nur wenige Personen verstehen wirklich dieses Konzept und welche zentrale Rolle es bei einer möglichen, echten Evolution unserer Spezies spielen kann.

Gurdjieff, Orage, Don Juan, Dr. Stout und sogar Jesus - obwohl sie unterschiedliche Hintergründe haben und recht unterschiedliche Perspektiven in dieser Angelegenheit zeigen - sagen im Wesentlichen alle dasselbe: Wir, als Menschen, sind nicht 'wir selbst', weil wir uns selbst nicht kennen. Wie können wir auch, wenn wir in unseren wachen Stunden schlafen? Integrität kann nur aus dem Wissen um das eigene Selbst kommen; das wiederum kommt nur durch Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber, was Wachsamkeit und Arbeit verlangt. Unsere Gesellschaft würde uns gerne komplett vom Denken abhalten und uns in vergängliche Illusionen der Konformität zu absurden, materialistischen Standards drängen; Standards, die, wenn sie wirklich analysiert werden, absolut nichts in unserem größeren Lebensplan bedeuten. Was 'sie' uns nicht sagen ist, dass, wenn wir uns an diese künstlichen Standards halten, wir unsere Integrität, unsere Ganzeit an den am best-manipulierenden Bieter 'verschenken'; Stück für Stück, Bisschen für Bisschen 'verschenken' wir uns an soziale Standards und an die Macher dieser Standards und es wird immer schwieriger, ihren Erwartungen gerecht zu werden - es ist im wesentlichen Sklaverei. Wie Philosoph und Theologie Boris Mouravieff sagte:
Als ein Häftling - möglicherweise freiwillig, aber dennoch ein Häftling - tut ein Mensch nicht das, was er tun will, sondern das, was er hasst, vertraut blind einer teuflischen mechanischen Lebensweise, die, unter ihren drei Aspekten, Angst, Hunger und Sex, sein Leben bestimmen. Diese absolut fiktive Existenz hat nichts Reales an sich, ausgenommen die Möglichkeit zur Evolution, die verborgen bleibt und die Zielsetzung von esoterischen Studien und Arbeiten formt.
Es ist nicht schwer zu erkennen, dass heutzutage Regierungen und Unternehmen unter der Tarnung von watteweichen Bezeichnungen wie 'Freiheit' und 'Liebe' mit Slogans um sich werfen, die in Wirklichkeit jene drei Aspekte sind, auf die Mouravieff verweist. Sie dienen lediglich dazu, uns freiwillig eingesperrt und ignorant gegenüber unserem wahren Potenzial als menschliche Wesen zu machen. Unsere Integrität ist alles, was wir haben; lasst uns deswegen dafür kämpfen mit allem, was wir haben; denn wir haben sprichwörtlich Alles zu verlieren.

Erlauben Sie mir als Schlussbemerkung Don Juan noch einmal zu zitieren; es ist etwas ermunternder und stellt alles in eine Perspektive:
Für mich ist die Welt seltsam, weil sie immens, beeindruckend, mysteriös und unergründlich ist; mein Interesse war, dich davon zu überzeugen, dass du Verantwortung hast, hier zu sein; hier, auf dieser wundervollen Welt, zu dieser wundervollen Zeit. Ich wollte dich davon überzeugen, dass du lernen musst, jede Handlung zählen zu lassen, da du nur eine kurze Zeit hier sein wirst; eigentlich zu kurz, um all ihre Wunder bezeugen zu können.
Denken Sie darüber nach.


FUßNOTEN
  1. deutsche Übersetzung des Titels: Der Mythos mentaler Gesundheit, Gespaltenes Bewusstsein und das Versprechen von Bewusstheit
  2. Schmerzfreiheit