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© dpa/reutersMarc Dutroux (l.) und der "Maskenmann" sind verurteilte Straftäter mit psychopathischen Persönlichkeitszügen
Was ist ein Psychopath? Warum begehen manche von ihnen grausame Verbrechen? Warum ermorden sie Kinder, vergewaltigen Frauen, prügeln Zufallsopfer zu Tode? Werden Sie böse und gewissenlos geboren oder entscheiden Sie sich, böse zu sein? t-online.de hat mit der Kriminalpsychologin und Beststeller-Autorin Lydia Benecke über Psychopathen und ihre Persönlichkeitsmerkmale gesprochen. Wir alle, sagt sie, bewegen uns "auf dünnem Eis".

Frage: Mirkos Mörder Olaf H., der „Maskenmann“, Marc Dutroux oder Josef Fritzl - sie alle sind Psychopathen, verurteilt für Mord und Vergewaltigung. Wie können solche Menschen jahrelang unbemerkt in unserer Gesellschaft leben?

Lydia Benecke: Psychopathen haben ein stark vermindertes Gefühlsleben, dennoch können sie häufig ein nach Außen völlig normales Leben führen. Sie sind nicht nur Monster. Es ist gruselig, aber Psychopathen haben völlig normale und nette Persönlichkeitsanteile, die neben den bösen stehen.

Wenn sie also mal nett sind zu ihrem Nachbarn oder jemandem helfen oder freundlich zuhören, dann kann das zwar gespielt sein, es kann aber auch sein, dass sie es in der Situation einfach ernst meinen.

Frage: Was sind die typischen Persönlichkeitsmerkmale, die Psychopathen auszeichnen?

Lydia Benecke: Sie haben kein oder kaum Mitgefühl oder Schuldgefühl. Normale Menschen haben einen unwillkürlichen emotionalen Impuls, wenn sie beispielsweise sehen, wie ein Kind sich verletzt. Der fehlt Psychopathen. Wenn Sie aber in ihrem Leben noch nie Mitgefühl empfunden haben, dann fehlt Ihnen automatisch auch das Schuldbewusstsein. Das entsteht nämlich nur, wenn wir uns schuldig fühlen, weil andere sich wegen uns schlecht fühlen.

Dazu kommt die innere Leere und die Langeweile, die viele Psychopathen erleben. Ihr starkes Bedürfnis nach Kicks macht sie so gefährlich. Sie sind häufig spontan und impulsiv, denken nicht über Konsequenzen nach. Zudem fehlt ihnen jegliches Angstgefühl.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die mangelnde Fähigkeit zu zwischenmenschlichen Gefühlen. In ihrer Welt sind Menschen nur Objekte, allenfalls Haustiere.

Frage: Gilt das auch für enge Angehörige? Beispielsweise die eigenen Eltern, oder sogar die eigenen Kinder?

Lydia Benecke: Ich behaupte ja. Der Massenmörder Richard Kuklinski aus den USA hat nach seiner Festnahme gesagt, er liebe seine Frau und seine Kinder. Trotzdem sagte er beispielsweise einmal zu seinen Kinder "Wenn ich eure Mutter aus Versehen in einem Wutanfall töte, dann muss ich euch leider auch töten - auch wenn es mir schwer fällt".

Ich glaube, einem Psychopathen bedeutet ein Mensch, von dem er sagt, er liebe ihn, so viel, wie normalen Menschen ihr Haustier, der Lieblingssportwagen oder eine teure Kette.

Frage: Wie wird man zum Psychopathen? Ist das genetisch bedingt oder wird man durch eine kaputte Kindheit dazu? Oder wird man gar zum Psychopathen erzogen?

Lydia Benecke: Das gefährliche Rezept setzt sich zusammen aus Umwelteinflüssen aber auch Genen. Wenn Menschen in ihrer Kindheit traumatisiert werden, hat das Gehirn mehrere Möglichkeiten darauf zu reagieren. Manche entwickeln Panikstörungen, andere Depressionen. Bestimmte Gene machen hingegen die Entwicklung einer psychopathischen Störung zumindest wahrscheinlicher.


Kommentar: In der Tat ist Psychopathie ein genetischer Faktor und wirkt sich laut Dr. Lobaczewski durch einen genetisch unterentwickelten oder beschädigtenpräfrontalen Cortexaus. Mehr Informationen finden Sie in unserem Sott-FOKUS Artikel:
John F. Kennedy und die Verzerrung der Politischen Ponerologie


Um ein wirklich gefährlicher Psychopath zu werden, müssen Sie vor Ihrem dritten Lebensjahr ein sehr starkes Kindheitstrauma entwickeln. Sie müssen in einer Umgebung aufwachsen, in der sie emotional vernachlässigt und misshandelt werden. Das kann auch eine für andere unsichtbare Misshandlung sein.

Nach außen hin hatte der Serienmörder Jeffrey Lionel Dahmer beispielsweise eine Bilderbuchfamilie, zuhause glich seine Mutter hingegen einem emotionslosen Zombie. Sie hat ihren Sohn komplett vernachlässigt, der Vater hat sich in seine Arbeit vergraben. Der Junge hatte keine Bezugsperson. Das hat starken Einfluss auf die Kinderpsyche.

Frage: Sie sagen in Ihrem Buch, dass fast jeder Mensch zu fast jeder grausamen Handlung fähig ist. Sind Psychopathen also wirklich so anders als wir? Oder stecken in jedem von uns psychopathische Züge?

Lydia Benecke: Eigentlich sind sie nicht anders. Bei uns sind lediglich Schuldgefühle zwischengeschaltet. Wenn wir beispielsweise nicht für hungernde Kinder in Afrika spenden, weil die so weit weg sind und wir deshalb kein schlechtes Gewissen haben, dann handeln wir in diesem Moment wie ein Psychopath es tun würde. Wir finden Rechtfertigungen, warum wir nicht spenden.

Ein gesundes Gehirn hat gelernt, sich für Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung verantwortlich zu fühlen, sich schlecht zu fühlen, wenn wir ihnen Hilfe verweigern. Dieser Mechanismus greift bei der Spende für Afrika nicht. Der Psychopath hat dieses Schuldgefühl aber gar nicht gelernt. Er könnte also beispielsweise ein Kind in einem See ertrinken lassen, um seine teuren Lederschuhe nicht im Wasser zu ruinieren.

Frage: Im Prinzip kann man also sagen, wir handeln nach dem gleichen Kosten-Nutzen-Prinzip wie ein Psychopath, gehen nur mit einem anderen Portemonnaie in die Situation?

Lydia Benecke: Genau so ist es! In Ihrem Portemonnaie finden sich alle Emotionen, die der Psychopath nicht hat. Aber nur deswegen handeln sie anders als er. Ihr Kosten-Nutzen-Prinzip funktioniert genau gleich. Die meisten Menschen wissen das nur nicht.

Frage: Wie kann ich erkennen, ob mein Nachbar, mein Partner, mein Kind oder gar ich selbst ein Psychopath bin?

Lydia Benecke: Desto länger ich mit diesen Menschen arbeite, desto stärker glaube ich, dass man den Psychopathen im Alltag gar nicht oder nur sehr schwer erkennen kann. Es gibt zwar viele Anzeichen, wie zum Beispiel Unzuverlässigkeit, Untreue, Verlogenheit, ausgeprägter Narzissmus.

Es sind aber nicht alle diese Persönlichkeitsmerkmale bei allen Psychopathen vorhanden oder gleichermaßen stark ausgeprägt. Zudem kann man auch untreu sein, ohne ein Psychopath zu sein. Wie Sie sehen gibt es kein eindeutiges Einschluss-Ausschluss-Kriterium.

Dazu kommt, dass ernst gemeinte Äußerungen von Psychopathen meist so befremdlich für uns klingen, dass wir sie eher als schrägen Humor werten. Einer meiner Patienten sagte beispielsweise als er seine neue Freundin einem guten Freund vorstellte: "Das ist nicht meine Freundin, das ist mein Eigentum". Er meinte das komplett ernst, der Freund fing an zu lachen. Das ist etwas, das ich sehr oft im Umgang mit Psychopathen erlebe.

Frage: Sie arbeiten im Strafvollzug häufig mit kriminellen Psychopathen wie Serienmördern oder Vergewaltigern zusammen, haben aber als Therapeutin auch regelmäßig mit nicht-kriminellen Psychopathen zu tun. Was sind die Unterschiede?

Lydia Benecke: Ich glaube, das hängt mit der Schwere des Traumas zusammen. Alle hatten eine schwierige Kindheit, aber die nicht-kriminellen Psychopathen hatten wahrscheinlich irgendetwas, das die unangenehmen Erlebnisse kompensiert hat. Eine Bezugsperson, die ihnen geholfen hat oder so etwas. Dadurch haben sie trotz ihrer Störung einige prosoziale Eigenschaften entwickeln können. Sie haben zumindest ein kognitives Gewissen und entscheiden rational, dass sie kein Krimineller sein möchten.

Auch die Angst vor Strafe spielt eine Rolle. Und natürlich die Möglichkeiten, die jemand in seinem Leben hat. Wenn ein Mensch mit psychopathischen Zügen in einem wohlbehüteten Elternhaus aufwächst, den normalen Bildungsweg geht, ein Studium absolviert und schließlich einen guten Job findet, dann hat er die Möglichkeit, sich die Dinge zu kaufen, die er haben möchte. Er muss keine Bank überfallen, muss nicht kriminell werden.

Frage: Welche Rolle spielt der freie Wille? Muss der mordende Psychopath beispielsweise seinem Impuls zu töten folgen?

Lydia Benecke: Ich vergleiche das gerne mit einer Diät: Jeder kennt das, man entscheidet sich, die nächsten vier Wochen nur noch Gemüse zu essen. Trotzdem kommt nach einer gewissen Zeit der starke Impuls auf, ein Stück Kuchen zu essen. Bin ich, wenn ich diesem Impuls nachgebe, ein Mensch ohne freien Willen?

So ähnlich ist es auch bei den Psychopathen. Nur das bei ihnen die Impulse etwas stärker und die Kontrollmechanismen etwas schwächer sind. Verglichen mit einem Auto: Der Psychopath hat ein überempfindliches Gaspedal, die Bremse ist leider ziemlich schwach. In diesem Bereich - zwischen Gaspedal und schwacher Bremse - bewegt sich sein freier Wille. Er muss viel mehr Willensstärke aufbringen, um mit dem starken Gaspedal und der schwachen Bremse trotzdem nicht vor die Wand zu fahren.

Frage: Stichwort Sicherheitsverwahrung: Ist Psychopathie überhaupt heilbar beziehungsweise therapierbar? Oder muss man schwerstkriminelle Täter zum Schutz der Gesellschaft lebenslang wegsperren?

Lydia Benecke: Um so größer der Psychopathiewert ist, umso höher ist auch die Rückfallgefahr. Es gibt aktuell zahlreiche Forschergruppen, die sich genau mit der Frage beschäftigen, ob Psychopathen therapierbar sind. Ehrlich gesagt gibt es darauf bisher keine eindeutige Antwort. Ich kann aber ganz klar sagen: Heutzutage sind wir noch nicht so weit, dass wir einen hochgradig psychopathischen Menschen, der zum Beispiel ausgeprägte Tötungsfantasien hat, behandeln können. So jemanden müssen wir dauerhaft einsperren.

Ich will aber noch mal ganz klar sagen: Das gilt in dieser Form nur für die Extremfälle. Die allermeisten psychopathischen Straftäter sind nicht solche Extremfälle und können gegebenenfalls behandelt werden.

Es geht bei den aktuellen Therapieansätzen nie darum, aus Psychopathen nette und emotionale Menschen zu machen. Es geht immer nur darum, ihnen beizubringen, wie sie ihre Bremse besser kontrollieren können. Das geschieht in deren eigenem Interesse. Solche Menschen haben, wie Sie sich vorstellen können, sehr wenig Lust, ihr Leben hinter Gittern zu verbringen. Entsprechend motiviert sind viele von ihnen, an ihrem Problem zu arbeiten.

Lydia Benecke arbeitet als selbstständige Psychologin und Therapeutin, unter anderem in einer Sozialtherapeutischen Einrichtung des Strafvollzuges mit schweren Straftätern. Sie ist Co-Autorin des Bestsellers "Aus der Dunkelkammer des Bösen", der in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Ihr aktuelles Buch "Auf dünnem Eis - Die Psychologie des Bösen" ist im Herbst 2013 im Lübbe-Verlag erschienen.